UEDING, G. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Türbingen: Niemeyer, 1992-2009. 10 vols.
Ueding. Historisches Wörterbuch. Band I, p. 1177-1188
[p. 1179] In der Rhetorik wird die Auctoritas immer als Überzeugungsmittel verwendet. Aufgrund jener nie zwingenden aber doch unvermeidlich überzeugenden Kraft, die ihr eignet, ist sie nach Victorinus „argumentum…cui quasi necesse habeat credi“. Aus diesem Grund ist die Beweisführung der Ort, an dem sie am wirkungsvollsten eingesetzt wird, Auctoritas ist hier alles, was in der Fall extrinsecus eingebracht wird und dessen argumentativer Wert darin besteht, dass es objektiv über-/p. 1180 zeugt, weil es sich schon von selbst versteht. Cicero macht aus ihr die Quelle für den Grossteil der nicht zur Kunst gehörenden Beweismittel: ‚Quae autem adsumuntur extrinsecus, ea maxime ex auctoritate ducuntur’. Eine Zeugenaussage z. B. wird ohne Auctoritas nicht glaubhaft sein, da nur sie einer Person den nötigen pondus testimoni geben kann. Die im Begriff bereits angelegte moralische Implikation ist auch hier sehr stark. Um Auctoritas zu haben, muss man vor allem in der virtus glänzen, oder wenigstens in jener opinio virtutis, die auf besonders glücklichen Lebensumständen beruht und die Wertschätzung durch das Volk darstellt. Darüber hinaus kann die Auctoritas auf der Kenntnis der ars beruhen, auf Erfahrung oder auf akzidentiellen Elementen, wie eben der fama vulgi.
[p. 1187] Der Autoritasbegriff wird danach im Zusammenhang von bürgerliche Revolution und feudaler Restauration zur zentralen Kategorie. Auctoritas gilt als Ausdruck konservativer Weltsicht, dem liberale Emanzipation und bürgerliche Individualität als neue Botschaft gegenüberstehen. Der gesellschaftspolitischen Opposition zwischen Auctoritas und ratio entspricht das literarisch-ästhetische Spannungsverhältnis zwischen Auctoritas und Genie. Die Betonung individueller bzw. moderner künstlerischer Kreativität gegenüber tradierten Regeln und Mustern lässt sich am Beispiel der ‚Querelle des anciens et des modernes’ zeigen.