UEDING, G. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Türbingen: Niemeyer, 1992-2009. 10 vols.
Fortuna, Zufall
Ueding, G. Historisches Wörterbuch: Band II, 124-140.
[p. 124] Im Rahmen der Gerichtsrhetorik bezeichnet Casus vornehmlich den Zufall, durch dessen Einwirkung das Verhalten des Angeklagten zu Folgen führ, die er nicht beabsichtigt hat. Zusammen mit der imprudentia (auch ignorantia, error: Unkenntnis, Irrtum) und necessitas (auch necessitudo, Notwendigkeit) bildet der Casus hier eine der drei Formen der purgatio, welche zur Entschuldigung des Angeklagten auf Umstände hinweist, die den Vorsatz ausschliessen. Der Casus ist somit ein Bstandteil der Statuslehre, die ihrerseits dem Bereich der inventio (der Lehre von der rhetorischen Erfindungskunst) zugehört, die der erste der Teile der rhetorischen Kunstlehre (rhetorices partes) ist. Die purgatio ist eine der Formen der concessio (auch excusatio, venia, qualitas veniales); diese weist auf Entschuldigungsgründe hin, welche für eine gestandene Tat vorgebracht werden können. Die concessio wiederum ist Bestandteil der qualitas assumptiva, die im Gegensatz zur qualitas absoluta die Tat nicht aus sich selbst heraus rechtfertig, sondern den Angeklagten durch Herbeiziehung (assumptio) weiterer Umstände zu verteidigen sucht, welche sein Verhalten in einem anderen Licht erscheinen lassen. Qualitas absoluta und qualitas assumptiva bilden zusammen die qualitas iuridicialis, einen Teil des status qualitatis (auch constitutio generalis), der seinerseits zu den status rationales gehört, die sich im Gegensatz zu den status legales, welche die Interpretation von rechtlichen Texten betreffen, direkt mit der Feststellung und Beurteilung des Täterverhaltens befassen.
Als entschuldigender Zufall wird der Casus auch in der Topik behandelt, wo er als Bestandteil der purgatio im Rahmen der imprudentia (Vorsatzlosigkeit) erscheint, die der prudentia (Vorsatz) entgegengesetzt wird. Prudentia und imprudentia sind Formen des modus, der sich mit der Frage der Willentlichkeit der Tat befasst, und somit zu den topoi gehört, die sich auf die Handlung beziehen (Negotiis […] quae sunt attributa Mart. Capella rhet, 12, Halm 459). Ähnlich erscheint der casus entschuldigend auch als eine der unvorsätzlichen Ursachen menschlicher Handlungen bei den loci (Argumentfundorten) zur Kausalität. Weiterhin begegnet der Begriff casus in der Topik zudem als Argumentationsgeschichtspunkt, der sich auf die Person bezieht (quod personis […] est attributum Grillius, rhet Halm 497); in diesem Zusammenhang bezeichnen casus bedeutsame Vorfälle oder Wechselfälle im Leben der Person, die gegebenenfalls auch zur Erregung von Mitleid verwendet werden können.