UEDING, G. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Türbingen: Niemeyer, 1992-2009. 10 vols.
Dubitatio, aporia, deliberatio
Ueding. Historisches Wörterbuch: Band II. 972-974
[p. 972] Mit der Gedankenfigur der dubitatio sucht der Redner die Glaubwürdigkeit seines eigenen Standpunktes zu kraftigen (fides veritatis), indem er rednerische Hilflösigkeit vortäuscht und an das Publikum eine in Frageform verkleidete Bitte um Beratung hinsichtlich der sach- und situationsgerechten gedanklichen Ausfürung der Rede richtet. Wenn eine Botschaft nicht mehr über eine ‚figure de l’autorité’ (auctoritas) vermittelt werden kannt, tritt die dubitatio in Erscheinung. Dann ist die Zustimmung des Zuhörers gefragt. Die eigentliche dubitatio ist auf eine Sache (res) bezogen; bezieht sie sich als Wortfigur nur auf die sprachliche Formulierung (verba), liegt eine onomasiologische dubitatio vor, die zu den figurae elocutionis gerechnet wird.
Der Gedanke des vorgetäuschten Zögerns ‚entre plusieurs mots […] partis, sens […] (B. Dupriez Gradus. Les prodédés littéraires, Paris, 1984), der sich auf der grammatischen Ebene in Konditional-, Frageform oder durch Intonation, Stocken, vorschichtiges Vortasten und Abweichungen ausdrückt, geht auf zwei unterschiedliche Wirklichkeitswahrnehmungen zurück. Einerseits auf eine ‚incertitude d’une âme qui […] ne fait […] que se combattre’ (P. Fontanier: Les figures du discours, Paris, 1968) Diese dubitatio ist der Verfahlung näher als der Vortäuschung, so dass sie den ‚Prétendues figures de pensées (Suberville, Théorie des genres et de l’art littéraire, Paris, 1941) oder Figuren der Leidenschaften zuzuordnen ist. Sie findet sich in Monologen von Trägodien. (…) Auf der anderen Seite ist die dubitatio ein Mittel, durch Offenlegung verschiedener Möglichkeiten eventuelle Einwände vorwegzunehmen oder an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Sie geht hervor aus dem, was in den vorgebrachten Fragen an Möglichkeiten eigenschlossen ist, ohne dass dies einer weiteren Affirmation der Verifikation bedarf. Diese Art von dubitatio ist ein deliberatives Element des genus iudiciale (…) Sie wird besonders der alten Rhetorik zugeschrieben heutzutage eher abwertend beurteilt und gehört systematisch zu den Gedanken- oder Wortfiguren. Dagegen besitz der richterliche Zweifel dann entscheidende Bedeutung (Urteilsfundung), wenn die Schuldzuweisung nicht definitiv möglich ist. Im Rechtsgrundstatz ‚in dubio pro reo’ kommt dies zum Ausdruck.